Etwas Ruhe in bewegtem Leben

Bergstraße. Angst vor Neuem hatte Michaela Kallinich nie, im Gegenteil. Sie suchte es sogar, und an ihrem Lebenslauf ist das auch deutlich zu sehen. Geboren und aufgewachsen in der DDR, Flucht über Ungarn nach Westdeutschland, Stationen unter anderem in Augsburg, Wörrstadt – und schließlich Bürstadt. Jobs hatte sie viele in der Zeit. Zuletzt jedoch war sie arbeitslos, mit über 50 Jahren. “Ich war oft kurz davor aufzugeben”, erzählt sie. Jeder weiß, wie schwer es ist, in diesem Alter noch eine neue Arbeit zu finden.
Doch Kallinich gab nicht auf. Und nun kehrt die gelernte Chemiefacharbeiterin mit 53 Jahren zurück auf die Schulbank, lässt sich zur Erzieherin ausbilden. Gerade macht sie ihr Anerkennungspraktikum im Berufsbildungswerk des Deutschen Roten Kreuzes in Worms. Anstrengend sei es, erzählt sie, aber auch schön und interessant.
Kallinich sitzt im Kommunalen Jobcenter “Neue Wege”. Auch mit 53 Jahren wirkt die zierliche Frau noch jugendlich. Sie lehnt sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. Neben ihr sitzen Achim Breßler und Nori Schäfer, Fallmanager im Jobcenter. Sie haben Kallinich betreut. Breßler ist zuständig für die “Perspektive 50plus” – über die auch Kallinich in die Arbeitswelt zurückfand.
Schon länger hatte Michaela Kallinich den Wunsch, als Erzieherin zu arbeiten. Dann stieß Breßler auf das Angebot des Beruflichen Schulzentrums Odenwaldkreis. Eine verkürzte Ausbildung zur Erzieherin, ein Jahr Schule, ein Jahr Praktikum. Alle Voraussetzungen für einen Bildungsgutschein waren erfüllt, Schul- und Fahrtkosten wurden komplett übernommen. “Es hat einfach alles gepasst”, sagt Breßler. “Ein glücklicher Zufall.”
Im November 2010 drückte die 53-Jährige erstmals nach 35 Jahren wieder die Schulbank. “Ein ungewohntes Gefühl”, sagt sie. “Am Anfang hat mir ganz schön der Kopf gequalmt.”
Warum sie Erzieherin werden will? Kallinich atmet tief durch. Dann beginnt sie zu erzählen. Als sie vier Jahre alt ist, kommt Kallinich in ein Heim. Ihre Mutter hatte sie vernachlässigt. Doch an die Zeit im Heim erinnert sie sich gerne zurück. “Es war die schönste Zeit meiner Kindheit.” Nun, mit ihrer neuen Arbeit, habe sie die Möglichkeit, etwas davon zurückzugeben.
Auch in der DDR hatte sie bereits einige Zeit als Kindergärtnerin gearbeitet. “Es war für mich eine einfache Möglichkeit, schnell an einen Krippenplatz für meine Tochter zu kommen.” Ohne Beziehungen lief damals nichts. Ein Grund, warum sie beschloss, wegzugehen. “Dabei ging es mir gut.” Die 53-Jährige hebt die Schultern. Sie hatte einen Job, eine Wohnung, einen Studienplatz in Aussicht. Doch sie wusste, wenn sie ihr Studium antritt, muss sie in die Partei eintreten. “Das wollte ich nicht.” Sie fühlte sich eingeengt. Mit ihrer kleinen Tochter redete sie offen über das Thema. Irgendwann, sie standen mitten auf der Straße, fragte die Tochter unvermittelt: “Mama, wann hauen wir endlich ab?” Kallinich stockt kurz. “Da ist mir das Herz in die Hose gerutscht.”
Aber es war auch das Signal für sie, dass sie weg musste. Einen Urlaub in Ungarn Anfang August 1989 nutzte sie zur Flucht. Drei Wochen verbrachte sie mit ihrer Tochter in einem Zeltlager in Budapest, bis ihre Ausreise genehmigt wurde. “Diese Euphorie werde ich nie vergessen.”
In Westdeutschland genoss sie ihre neue Freiheit. “Ich probierte alles aus.” Sie arbeitete als Kellnerin, als Verkäuferin, im Büro. Doch etwas Festes war nie in Sicht. “Früher hat mich das nicht gestört, doch man wird ja auch älter”, sagt sie. Dieser Neuanfang soll ihr letzter werden. Mit ihrem Ausbildungsplatz hat sie nun eine sozialversicherungspflichtige Stelle. “Ich bin froh, dass ich hier weg bin”, sagt sie und meint damit das Jobcenter. Schäfer und Breßler lachen. “Wir auch.”
Die Angst ist weg, sagt Michaela Kallinich. Die Angst, nicht zu wissen, was die nächsten Tage bringen. Die Angst, ewig vom Staat abhängig zu sein. “2010 habe ich mir das Ziel gesetzt, dass ich endlich mal beruhigt Weihnachten feiern kann.” Sie lächelt. Vor wenigen Tagen hat sie ihr Ziel erreicht.

Südhessen Morgen, 3. Januar 2012

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